Einheit.

Heute ist Tag der Deutschen Einheit. Als ich heute morgen aufwachte, habe ich an meinen Geschichtslehrer aus der Oberstufe gedacht. In meiner gesamten Schulkarriere war dieser (zumindest in meiner Erinnerung) der einzige, der überhaupt einmal über die Deutsche Einheit mit uns gesprochen hat. Er fragte uns, was wir am 3. Oktober, am Tag der Deutschen Einheit, gemacht hatten. Wir sollten aufschreiben, was uns an und zu diesem Tag durch den Kopf ging, schließlich war ja schulfrei. Als nicht auf den Kopf gefallene 18-Jährige war mir natürlich klar, was er nicht hören wollte: Dass ich an diesem Tag ausgeschlafen hatte, wohl möglich am Vorabend mir meinen Freunden bis spät in die Nacht und knapp volltrunken unterwegs gewesen war, und mich ansonsten, mal abgesehen von vielleicht ein bis zwei Zeitungsartikeln, die ich gelesen hatte, nicht weiter mit dem Tag oder seiner Bedeutung beschäftigt hatte. Stattdessen schrieb ich einen flammenden Aufsatz über inzwischen vielleicht erlaubten, leichten Stolz, auf diese Wiedervereinigung und das Land, was daraus geworden war. Ich bekam eine eins dafür, und schämte mich, denn natürlich hatte ich am 3. Oktober nicht darüber nachgedacht, sondern erst ein paar Tage später, als ich den Aufsatz schrieb.

 

Ich war gerade fünf, als die Mauer fiel, und sechs als die “Einheit” offiziell besiegelt wurde. Als wir im November 1989 abends vorm Fernseher saßen, hatten meine Eltern Tränen in den Augen. Was dort geschah habe ich aber nicht verstanden. Ich wohnte damals seit ein paar Monaten mit meiner Schwester und meinen Eltern in der Nähe von Bonn, der alten Hauptstadt, und ich erinnere mich vor allem an die Zeit danach, als heftig über die Hauptstadtfrage diskutiert wurde und in Bonn viel demonstriert wurde. In der Reihenhaussiedlung, in der ich seit 1989 aufgewachsen bin, klebt bis heute an einem Straßenschild der Aufkleber, der meine Kindheit begleitet hatte, früher klebten die überall: “Wir sind die Steuerzahler! Wir brauchen keinen Umzug nach Berlin!” Der Umzug passierte dann aber doch. Das merkte man. Nach und nach gingen vor allem viele Väter nach Berlin. Die meisten nahmen ihre Familien erst einmal nicht mit. Sie pendelten zwischen ihren Jobs für große Zeitungen oder in der Politik und der kleinen, pittoresken rheinischen Heimat hin und her. Über die Jahre standen immer mehr Gebäude im Bonner Regierungsviertel leer und gependelt wurde immer weniger, viele Ehen gingen über die Distanz zu Bruch.

 
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Lisa hat einmal einen Text über ihren ostdeutschen Kindergarten geschrieben. Beim Lesen musste ich oft an meinen westdeutschen denken. Sicher waren nicht alle Kindergärten schlecht und sicher war es im Westen freier und komfortabler als im Osten (wobei ich es schwierig finde, das zu generalisieren). Aber der Kindergarten, in den ich für knapp ein Jahr ging, nach dem wir aus dem Plattenbau im Ruhrgebiet in das Reihenhaus im Rheinland gezogen waren, war ganz ähnlich wie der ostdeutsche, den Lisa hier beschreibt. Ich möchte das nicht verharmlosen und ich habe ein paar Mal geschluckt, als ich den Artikel vor ein paar Jahren las. Aber vieles von dem, was Lisa hier erlebt hat, habe ich auch erlebt, in einem anderen Land und in einem anderen System, aber doch sehr ähnlich.

 

Wenn ich an diesen Kindergarten denke, denke ich aber auch eine langjährige Freundin, die nur wenige Tage nach dem ich neu im Kindergarten war, auf einem kleinen Holzstuhl im Gruppenraum stand und sich vorstellen sollte. H. war mit ihrer Familie über Ungarn aus Ostberlin geflohen, wenige Monate vor der Wende. Was das bedeutete, habe ich damals (und vielleicht auch bis heute) nicht verstanden. H. und ihre Eltern hatten ihre Familien dort zurückgelassen und waren ein großes Risiko eingegangen, um in den Westen zu fliehen. Ich weiß nicht, was ihnen im Prenzlauer Berg widerfahren war, aber es muss so schlimm gewesen sein, dass sie ihre Sachen packten und abhauten. Seit ich älter bin, habe ich ein paar mal an diese Familie gedacht, und daran, was wohl gewesen wäre, wäre ihnen damals bei dieser Flucht etwas zugestoßen. Was für eine Ironie der Geschichte, dass sie geflohen waren, so kurz bevor die Grenzen zwischen Ost und West zumindest auf dem Papier verschwanden. Der größte für mich spürbare Unterschied zwischen ihr und mir war damals wohl der Dialekt unserer Väter, vom Rest hatte ich damals überhaupt keine Vorstellung. Das große Ganze habe ich damals nicht verstanden. Und es fällt mir bis heute schwer, mir das alles vorzustellen.

 
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Nach dem Abitur habe ich sieben Jahre in Ostberlin gelebt (zwei Tage vor Mini-Mes Geburt bin ich nach Westberlin gezogen). Das war zum Teil noch vor der Zeit, als Ostberlin anfing, zu schillern. Als ich nach dem Abi in Friedrichshain nach einer Wohnung suchte, gab es dort noch sehr viel Leerstand. Für den Preis eines WG-Zimmers in anderen Deutschen Universitätsstädten bekam ich damals als Wessikind mit gut verdienenden Eltern (und Bürgschaft) eine riesige Zweizimmerwohnung, mit Dielen, Stuck, Erker und einer großen schicken Küche, sehr viel Platz, und obendrauf den Neid meiner ehemaligen Schulkameraden, die zum Großteil in Bonn oder in Köln studierten und in winzigen WG-Zimmern ohne Tageslicht hausten, aber viel mehr bezahlten. Meine ersten Jahre in Berlin waren wild, hedonistisch, und sehr komfortabel. Wohl ein Umstand, den ich auch dem Zusammenschmelzen zweier temporärer Nationen zu verdanken habe.

 

Mein Freundeskreis ist sehr gemischt. Ich mache immer noch viel mit den inzwischen in Berlin lebenden Kids aus dem Bonner Vorort, aus dem ich mit 19 unbedingt entfliehen musste. Obwohl ich meine Jugend dort lange verteufelt habe, verbindet uns irgendetwas. Ich kann das bis heute nicht benennen, aber ca. die Hälfte meiner engen Freunde kommt aus dem gleichen Kaff in Westdeutschland. Die andere Hälfte teilt sich ungefähr 50/50 in “Ossis” und “Wessis”. Zwischen den “Ossis” gibt es riesige Unterschiede. Manche trauern dem Land nach, in dem sie geboren wurden und welches es nun seit knapp einem Vierteljahrhundert nicht mehr gibt. Andere sind froh, dass die Dinge kamen wie sind. Inzwischen sind Diskussionen über Für und Wider der DDR seltener geworden, weil es einfach unwichtiger ist, zumindest gefühlsmäßig. In meiner Studentenzeit gab es noch häufiger hitzige Diskussionen darüber, ob die Kindheit in DDR wirklich so unbeschwert war, wie sie z.B. meine Freundin A. in Erinnerung hat, oder ob da eine gewisse Portion Verklärung ihrerseits und der Gesellschaft mitschwingt.

 
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Ich selbst empfinde die ehemalige DDR als Unrechtsstaat. Ich kann mir nicht vorstellen wie es ist, in einem Land zu leben, aus dem ich nicht ausreisen darf. In dem es keinen Bananen gibt. In dem ich von meinen Freunden und Verwandten und Nachbarn belauscht werde. Diese eher theoretische Vorstellung wird konkreter, wenn ich bedenke dass mein ehemaliger Mitbewohner (der übrigens auch mit seiner Familie schon vor dem Mauerfall geflohen war) nach der Wende detailgetreue Berichte seiner Kindergeburtstage und seiner Einschulung, geschrieben von einem IM aus dem engen Familienumkreis, lesen musste. Oder eine Freundin, die erst als Erwachsene herausfand, dass ihr Vater neben seiner offiziellen und sehr ehrenwerten Beschäftigung auch noch einer “inoffiziellen” nachging, die etwas weniger ehrenwert war.

 

Ich glaube dass das Leben individuell ist und dass das Land, in dem wir geboren wurden nur einen gewissen Teil davon ausmacht, was und wie wir später werden. Die kollektive Erinnerung meiner Generation, ob aus Ost oder West, überschneidet sich, weil wir uns an die Zeit davor kaum erinnern können. Wir alle haben die Glanzbilder und die Glitzersticker gemein, die Mini-Playbackshow, den Ed von Schleck, Glibberschleim und Mila Superstar. Was darunter liegt, verblasst. Wird abgerissen, überstrichen, schön-saniert und vergessen. Und bei allem Unrecht frage ich mich manchmal, ob das sein muss. Denn dadurch, dass die Dinge aus der Vergangenheit verschwinden, verschwindet auch die Erinnerung irgendwie.

 
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Was ich über die DDR weiß, weiß ich aus ein paar wenigen Geschichtsstunden in der Oberstufe, aus spärlichen Erzählungen von Klassenfahrten meiner Eltern nach Ostberlin oder in die Grenzzone, aus einer handvoll Zeitungsartikeln und Reportagen, von den sehr ausführlichen Erzählungen meines Lehrers Arno Fischer, den ich nur wenige Wochen vor seinem Tod noch mit einer kanadischen Kunsthistorikerin zu seiner fotografischen Arbeit in der DDR interviewt habe (und der immer wieder betont hat, dass er “an Flucht nie gedacht” habe) und aus den teils verklärten, teils sehr kritischen Erinnerungen einiger Freunde, die zwar in der DDR geboren wurden, sich aber kaum an sie erinnern können.

 

Heute ist für mich ein nachdenklicher Tag, der übrigens auch Mini-Mes berechneter Geburtstermin war. Später treffe ich mich mit ein paar Freundinnen, “Ossis” und “Wessis” gleichermaßen. Wir machen da keinen Unterschied. Aber nachdem ich das alles aufgeschrieben habe, denke ich, dass ich mir noch einmal das Transkript meines Fischer-Interviews durchlesen muss. Und H. aus dem Kindergarten kontaktieren möchte, um näheres zu ihrer damaligen Flucht zu erfahren. Ich möchte Lisa noch mehr zu ihren Erfahrungen im Kindergarten befragen. Und meine Eltern zu ihren Klassenfahrtserlebnissen. Und ich möchte weniger aufschreien und diskutieren, und anstatt dessen besser zuhören. Was daraus geworden ist, möchte ich in einem Jahr dann noch einmal aufschreiben.

 

Alle Fotos: Carolin Weinkopf

1 comment

  1. Ein sehr schöner Artikel. Man sollte nicht in (N)ostalgie versinken, aber auch nichts totschweigen. Ich war 10 als die Wende kam und habe sie von der anderen Seite der Mauer erlebt. Wenn in wenigen Wochen wieder die Bilder vom November ’89 über die Bildschirme flimmern, weiß ich schon heute, dass ich es mir wie jedes Mal die Kehle zuschnüren wird. Ich hatte auch vor der Wende eine schöne Kindheit, aber ich bin trotzdem unendlich dankbar, dass ich in einem Land wie der DDR nicht erwachsen werden musste!

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